IPSOs Engagement in Afghanistan geht auf die Tätigkeit von Inge Missmahl in diesem Land zurück, die 2004 begann, zur Gründung der IPSO gGmbH in Deutschland im Jahr 2008 führte und 2011 zu der Gründung einer lokal registrierten Nichtregierungsorganisation. Ipso Afghanistan wird seit 2022 nicht mehr als Betriebsstätte der Ipso gGmbH geführt, sondern als lokale Partnerorganisation unterstützt.
Die Projektarbeit konzentrierte sich zunächst auf die Einführung niederschwelliger psychosozialer Angebote für Menschen mit hohen psychosozialen Stressoren im staatlichen Gesundheitssystem. Finanziert wurden diese Projekte von der EU und dem Auswärtigen Amt. Die wichtige Rolle, die MHPSS in einem Land, das seit mehr als vierzig Jahren von Gewalt und Unsicherheit geprägt ist, für den gesellschaftlichen Frieden spielt, führte dazu, dass wir 2013 damit begannen, Konzepte für die Stärkung kultureller und sozialer Identität zu entwickeln und umzusetzen. Ein 2016 gegründetes psychosoziales Zentrum in Kabul ist landesweit über seine Online-Dienste erreichbar.
IPSOs Engagement orientiert sich an einer Interventionspyramide, die an die Pyramide der IASC Guidelines on Mental Health and Psychosocial Support in Emergency Settings des Ständigen Interinstitutionellen Ausschusses der Vereinten Nationen angelehnt ist. IPSO ist mit Value Based Counseling auf niederschwellige psychosoziale Angebote unterhalb spezifischer psychologischer oder psychiatrischer Dienste spezialisiert.
Die unterste Ebene bietet einen niederschwelligen Zugang zu Aktivitäten, bei denen es um Fragen des Zusammenlebens auf lokaler Gemeinschaftsebene geht, wie z. B. soziokulturelle Dialoge, Veranstaltungen mit Schwerpunkt auf bestimmten gesellschaftlichen Themen und Gemeinschaftsprojekte. Von geschultem Personal moderierte Dialoge bieten sichere Räume, in denen schwierige Themen in Familien und lokalen Gemeinschaften einschließlich Vorurteilen und schädlichen Praktiken angesprochen werden können und Grundlagen für Verhaltensänderungen gelegt werden. Soziokulturelle Veranstaltungen ermöglichen es Teilnehmer:innen, sich mit Menschen aus anderen gesellschaftlichen Gruppen zu vernetzen, während kleine soziale Projekte, die mit Unterstützung unserer Fachkräfte von Teilnehmer:innen initiiert werden, die Umsetzung von Verbesserungsideen fördern.
Auf der darüberliegenden Ebene wird psychosoziale Unterstützung im Rahmen von Selbsthilfegruppen, Lebenskompetenzgruppen und Mediation bei Familienkonflikten geboten. Letzteres war neben dem individuellen Counseling in einem Projekt besonders wichtig, das von 2017 bis 2021 psychosoziale Dienste in Frauenhäusern und Familienzentren in 18 afghanischen Provinzen anbot. Ziel des Projekts war die psychische Stabilisierung der schutzsuchenden Frauen und Kinder, die Erfahrungen mit Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung durch ihre Familien und ihr soziales Umfeld gemacht hatten. Eine sichere Reintegration im Rahmen von Mediation bei Familienkonflikten war oftmals die einzige Möglichkeit, ihre Zukunft längerfristig zu sichern. Aufklärungsarbeit zu Themen wie Gewalt gegen Frauen und Mädchen, psychosozialen Stressoren und möglichen Bewältigungsstrategien im sozialen Umfeld der Betroffenen spielt in einem solchen Kontext eine wichtige Rolle.
Selbsthilfegruppen als Teil der zweiten Ebene der Interventionspyramide stärken die psychosoziale Kompetenz der Teilnehmenden und fördern indirekt den sozialen Zusammenhalt in den lokalen Gemeinschaften. Die Gruppen bieten die Möglichkeit für einen Erfahrungsaustausch und gegenseitige Unterstützung. Das Format eignet sich besonders für traumatisierte Überlebende häuslicher Gewalt, Orientierung suchende Jugendliche, ältere Menschen, die sich durch die vielen Umbrüche von der Gesellschaft abgehängt fühlen, und marginalisierte Mitglieder der Gesellschaft. Zudem können Unterstützungsgruppen für Menschen wichtig sein, die durch ihre Arbeit psychisch belastenden Situationen ausgesetzt sind, wie zum Beispiel Personal, das Hilfsorganisationen vor Ort einsetzen.
In Lebenskompetenzgruppen, die von psychosozialen Counselors geleitet werden, steht die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten im Vordergrund, die es den Teilnehmenden ermöglichen, mit psychosozialen Belastungen im Alltag erfolgreicher umzugehen. Die Teilnehmer:innen entwickeln ein besseres Verständnis für ihre individuelle Lebenssituation und lernen, Ressourcen zu aktivieren, die ihnen beispielsweise dabei helfen, mit Gefühlen wie Aggression oder mit familiären Konflikten besser umgehen zu können. Selbsthilfegruppen können auch von Menschen geleitet werden, die in ihrer lokalen Gemeinde einen guten Ruf und das nötige Vertrauen besitzen; sie erhalten dafür eine entsprechende Schulung. Die Diskussionsgruppen bieten Raum, relevante gesellschaftliche Themen anzusprechen.
Die Sensibilisierung für psychische Gesundheitsprobleme und psychosoziale Stressoren ist ein weiterer wichtiger Teil von psychosozialer Unterstützung auf der lokalen Gemeindeebene, da vielen Menschen nicht bewusst ist, dass es einen Zusammenhang zwischen Symptomen wie Schlaflosigkeit, Übererregung oder sozialem Rückzug und psychosozialen Stressfaktoren wie zum Beispiel familiären Konflikten, Trauer oder Vertreibung bis hin zu traumatischen Erlebnissen geben kann. Menschen, die auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht werden, können an einer Selbsthilfegruppe teilnehmen oder individuelles psychosoziales Counseling auf der nächsthöheren Ebene der Interventionspyramide in Anspruch nehmen. Da in der Geberlandschaft in der Regel das Gewicht entweder auf eine psychische Grundversorgung im Rahmen von Gesundheitsdiensten gelegt wird oder auf die psychosoziale Dimension von Friedensförderung, haben IPSO Projekte in Afghanistan in der Regel einen dieser zwei Schwerpunkte:
- Projekte, deren inhaltlicher Schwerpunkt auf psychischer Gesundheit und psychosoziale Unterstützung liegt (MHPSS auf individueller Ebene)
- Projekte, deren inhaltlicher Schwerpunkt auf psychosozialer Friedensförderung liegt (MHPSS und soziokulturelles Empowerment auf Gemeinschaftsebene)
Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung
IPSOs Projektarbeit in Afghanistan konzentrierte sich zunächst auf die Einführung niederschwelliger psychosozialer Angebote für Menschen mit hohen psychosozialen Stressoren in das staatliche Gesundheitssystem. In den Jahren 2011 bis 2016 wurde Value Based Counseling (VBC) mit Unterstützung der Europäischen Union und des Auswärtigen Amtes in das staatliche Gesundheitssystem Afghanistans integriert. Der Counseling Ansatz und das darauf aufbauende Curriculum wurden vom afghanischen Gesundheitsministerium übernommen und als verbindliches Qualitätsmerkmal von Psychosozialen Counselors, die im Gesundheitswesen arbeiten durften, verankert. VBC wurde in das Basic Package of Health Services (BPHS), das Essential Package of Hospital Services (EPHS) und die National Mental Health Strategy aufgenommen. Im Rahmen des öffentlichen Gesundheitssystems wurden landesweit 380 Stellen für psychosoziale Counselors an Comprehensive Health Centres (CHC) geschaffen sowie Trainings zu psychosozialer Gesundheit für Ärzt:innen, Krankenschwestern und -pfleger durchgeführt. Ärzt:innen konnten hausintern Patient:innen mit Symptomen, die ursächlich mit einem psychosozialen Stressor in Zusammenhang stehen, an psychosoziale Counselors überweisen.
Mit entsprechenden finanziellen Mitteln hätte das afghanische Gesundheitssystem die landesweite psychosoziale Versorgung weiter ausbauen können. Da dies jedoch nicht geschah, eröffneten wir 2016 in Kabul ein psychosoziales Zentrum mit einer daran angeschlossenen Tagesstätte, die bis Ende 2022 vom Auswärtigen Amt finanziert wurde. Zudem wird individuelles Counseling über ein Video-Online-Portal angeboten, das niederschwellig, ortsunabhängig und diskret über eine sichere Verbindung ein persönliches psychosoziales Counseling über das Internet ermöglicht. Der Bedarf für die Dienste des Zentrums ist heute größer denn je, und es ist uns mit finanzieller Hilfe der Caritas, von privaten Spenden, den Schmitz-Stiftungen und anderen Gebern gelungen, den Betrieb bis heute trotz der schwierigen politischen Bedingungen für humanitäre Projekte in Afghanistan aufrecht zu erhalten.
Wir bemühen uns um Anschlussfinanzierungen, mit denen Ipso Afghanistan den Betrieb des Zentrums längerfristig sichern kann. Ein dreistufiges Modell könnte eine psychische Grundversorgung im ganzen Land ermöglichen. Das Online-Counseling im Zentrum in Kabul würde demzufolge durch regionale Zentren in den vier größten Städten des Landes (Jalalabad, Mazar-e-Sharif, Herat und Kandahar) und in Bamiyan entlastet, in denen individuelles Counseling und Unterstützungsgruppen angeboten würden. Care Points in den jeweils umliegenden Provinzen würden wiederum die regionalen Zentren durch Gruppenangebote vor Ort entlasten und Zugang zu Online-Counseling mit Counselors in Kabul ermöglichen.
Psychosoziale Friedensförderung
IPSO implementierte für ein Jahrzehnt Projekte in Afghanistan, deren Schwerpunkt auf der psychosozialen Friedensförderung liegt, und die informell den Namen „Container-Projekte“ trugen. Der Name leitet sich von bunt bemalten Schiffscontainern ab, die nach einem entsprechenden Umbau als mobile soziokulturelle Zentren eingesetzt wurden. Das Ziel der Projekte war die Stärkung der Zivilgesellschaft in Afghanistan durch die Förderung individueller psychosozialer Fähigkeiten als Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe und Integration. Die Container dienten Mitgliedern lokaler Gemeinschaften als sichere Räume für einen Austausch über soziokulturelle Themen, die für ein friedliches Zusammenleben wichtig sind.
Ungefähr zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre, und nur eine kleine Minderheit ist alt genug, um sich an ein friedliches Afghanistan in den 1960er und 1970er Jahren zu erinnern. Die afghanische Gesellschaft wurde seitdem jedoch nicht nur durch bewaffnete Konflikte destabilisiert, sondern in den vergangenen zwanzig Jahren auch durch soziale Konflikte, die durch äußere kulturelle Einflüsse entstanden. Sie reichten von Bedingungen, die an internationale Entwicklungszusammenarbeit geknüpft wurden, bis hin zu sozialen Normen und Lebensentwürfen, die von indischen Bollywood-Filmen und türkischen Seifenopern propagiert oder durch Social Media transportiert werden. Durch diese Einflüsse wurden Teile einer traditionellen Gesellschaft innerhalb von Jahrzehnten in die Moderne katapultiert; sie hatten keine Möglichkeit, einer selbständigen Entwicklung zu folgen. Dadurch ausgelöste Generationenkonflikte machten es vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen schwer, in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten. Während manche das Land verließen, um einer europäischen Version des amerikanischen Traums zu folgen, bemühten sich andere um eine Zukunft im eigenen Land. Der jüngste politische Umbruch, der im August 2021 erfolgte, machte dieser Entwicklung ein jähes Ende und konfrontiert seitdem nicht nur viele Frauen und Mädchen der urbanen Mittel- und Oberschicht mit einer sozialpolitischen Kehrtwende. Ein Land, das am Tropf internationaler Geldzuwendungen hing, braucht nicht nur eine neue wirtschaftliche Grundlage, sondern muss über ethnische Zugehörigkeiten, Lebensbiografien und kollidierende soziale Werte hinweg das Zusammenleben neu verhandeln. IPSOs Projekte förderte diese Verhandlungen auf allen drei Ebenen der Interventionspyramide.
Im Zentrum der Projekttätigkeit lag die unterste Ebene der Interventionspyramide in Form von soziokulturellen Dialogen, Veranstaltungen mit Schwerpunkt auf bestimmten gesellschaftlichen Themen und Gemeinschaftsprojekten. Wo nötig, stärkten Selbsthilfegruppen als Teil der zweiten Ebene die psychosoziale Kompetenz von vulnerablen Menschen, indem sie die Möglichkeit für einen Erfahrungsaustausch und gegenseitige Unterstützung boten. Das Format eignet sich besonders für die Inklusion von traumatisierten Überlebenden häuslicher Gewalt, Orientierung suchenden Jugendlichen, älteren Menschen, die sich durch die vielen Umbrüche von der Gesellschaft abgehängt fühlen, und marginalisierten Mitgliedern der Gesellschaft in den gesellschaftlichen Friedensprozess. Die Inanspruchnahme von Value Based Counseling (VBC) auf der nächsthöheren Ebene stärkte das Vermögen einzelner, sich in einen gesellschaftlichen Wandel einzubringen, der Frieden zum Ziel hat.
Print- und Online-Publikationen
- Supporting the Integration of Mental Health into the Public Health Care System of Afghanistan by qualifying health professionals and training a pool of national mental health trainers, 2013, beschreibt die Anfänge von IPSOs Engagements in Afghanistan. Die Organisation entstand aus einem EU-geförderten Projekt, in dessen Rahmen psychosoziale Counselors und Trainer:innen für die Arbeit in öffentlichen Kliniken ausgebildet wurden.
- Mental Health in North Afghanistan, 2013, beschreibt die Anfänge von IPSOs Engagement in Afghanistan. Im Mittelpunkt stehen die Verbesserungen in der psychosozialen Unterstützung des Gesundheitssystems im Norden Afghanistans, die mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes erreicht werden konnten.
- Peace and stability through cultural dialogue and psychosocial support in Afghanistan, 2013, beschreibt am Beispiel von IPSOs Tätigkeit in Afghanistan die Bedeutung von psychosozialer Unterstützung und kulturellen Dialogen für psychosoziale Friedensförderung.
- Unity in Cultural Diversity. Ein Ausstellungskatalog von 2014 im Rahmen des ‚Cultural Container Project‘, das in 10 Provinzen Afghanistans durchgeführt wurde.
- My Luck is Sleeping: Das Buch gibt anonymisiert Einblicke in die schwierige Situation von Menschen, die in einem Land leben, das von Krieg, Vertreibung und Armut geprägt ist. Zugleich zeigt es den Mut und die Kraft, mit der einzelne Menschen ihr Schicksal bewältigt und sich eine Zukunft geschaffen haben.
- A World of Whispers, 2018, schreibt die Publikation „My Luck is Sleeping“ von 2016 fort.
- Value-based Counseling at the Psychosocial and Mental Health Center Kabul, 2018, beschreibt die Arbeit des psychosozialen Zentrums, das IPSO seit 2016 in Kabul betreibt.
VBC/IPSOs Engagement in Afghanistan auf Youtube